7 Otterslide Lake - Big Trout Lake II


Jenseits der Portage erwartet uns eine veränderte Landschaft. Wir sind jetzt in einem Sumpfgebiet, die Ufer des Flüsschens sind morastig, das Wasser voller Pflanzengeschling und blühender Seerosen. Genista entdeckt einen handtellergroßen Frosch, der in den Schlingpflanzen auf Libellen lauert. Nur der Kopf mit den vorstehenden, goldenen Augen ragt aus dem Wasser. Stoisch verlässt sich das Amphibium auf seine Tarnfarben, als wir bis auf wenige Zentimeter heranpaddeln und es abfotografieren. Wir sind noch ganz erfüllt von dieser außergewöhnlichen Begegnung, als Genista einen zweiten Frosch an Backbord meldet. Dieses Exemplar ist womöglich noch größer als sein Artgenosse. Es erleidet das gleiche Schicksal. Wenig später erspähe ich zwei goldene Murmeln auf der Wasseroberfläche, es hängt ein Frosch daran. Bei Zwanzig hören wir auf, zu zählen. Innerhalb einer halben Stunde sehe ich mehr Frösche als zuvor in meinem gesamten Stadtbewohnerdasein.



Nun aber geht es nicht weiter, die Natur hält einen weiteren Höhepunkt für uns bereit, sie hat einen pittoresken Biberdamm auf unseren Weg gelegt. Dahinter spiegelt sich der Nadelwald in einem kleinen Teich. Wir müssen lange suchen, bis wir das gelbe Portageschild an einem der jenseitigen Bäume entdecken. Der Damm dient uns als Landungsbrücke, er ist elastisch, aber äußerst stabil. Eine weitere kleine, unspektakuläre Portage später beladen wir unser Kanu an einem morastigen Ufer voller Schuhabdrücke. Ich will gerade ins Boot steigen, als Genista nach mir ruft. Er zeigt auf eine Stelle neben einem Stein. Im weichen Untergrund ist eine ovale Mulde erkennbar, darüber vier kleinere, fast kreisförmige Abdrücke. Die Spur ist so lang wie mein Fuß und dreimal so breit. Ich blicke auf den Abdruck der Vorderpranke eines ausgewachsenen Bären. Genaugenommen ist es nur der halbe Abdruck - Ballen und Zehen; die Stelle, an der die Ferse den Boden berührt hat, ist nicht zu erkennen. Nicht weit davon entfernt entdecke ich eine frischere Bärenspur, halb zerstört von einer genoppten Schuhsohle. Hier sind deutlich die Abdrücke der Klauen zu sehen.



Vielleicht ein wenig schneller als sonst besteigen wir das Boot und wollen gerade lospaddeln, als ein Kanu in der Flussbiegung erscheint und auf den Landeplatz zusteuert. Darin sitzen zwei Männer, die mit ihren Tarnhosen und verwegenen Vollbärten so aussehen, als würden sie die Tiere des Waldes gelegentlich auch gerne durch ein Zielfernrohr betrachten. Sie informieren uns, dass bis zur nächsten Portage vier Biberdämme zu überwinden sein werden. Wir revanchieren uns mit dem Hinweis auf unseren Fährtenfund. Als ich mich im Davonpaddeln noch einmal umdrehe, sehe ich, wie die beiden die Spuren fotografieren.

Jetzt liegt eine lange, gewundene Paddelstrecke vor uns. Schon bald erreichen wir den ersten Biberdamm, er hat in der Mitte eine breite Lücke, die sich problemlos durchfahren lässt. Auch die drei weiteren Dämme auf unserem Weg sind mit einer praktischen Fahrrinne ausgestattet. Wir fühlen uns veralbert.

Inzwischen ist Mittag, und wir haben die Hälfte der längsten Flussetappe hinter uns. Wir lassen das Kanu am Ufer dümpeln und picknicken Cream Cheese-Bagels und Trockenfleisch. Im klaren Wasser wimmelt es von Fischen. Als Genista einen größeren erspäht, erwacht in ihm der Jagdtrieb und er wirft die Angel aus. Sofort bildet sich eine neugierige Fischtraube um den Köder. Ich mag nicht hinsehen und wende mich wieder meinem Bagel zu. Dann kommt es, wie es kommen muss, ein Fisch hängt an der Angel, er ist vielleicht fünfzehn Zentimeter lang. Vorsichtig pflückt Genista seinen Jungfernfang vom Haken und setzt ihn ins Wasser, wo er seiner Wege schwimmt, als sei nichts geschehen. Gleich nebenan stülpt sich Otterslide Creek zu einem kleinen See aus, dort will Genista nun hin, denn dort vermutet er den kapitalen Barsch, den er heute Abend über dem mit eigenen Händen errichteten Feuer braten will, wie es der von der Wildnis erweckte Instinkt von ihm verlangt. Der See ist nicht mehr als ein seichter Tümpel, mühelos sehe ich bis auf den sandigen Grund, da sind merkwürdige Vertiefungen, oval mit mehren kleinen, runden darüber. Nein, wir sind nicht die einzige Säugetierspezies hier, die gelegentlich gerne Fisch isst. Ich hebe den Blick, an dieser Stelle führt ein Tierpfad zum See, und ich weiss sowieso schon, dass der Bär auch dort seine Spuren hinterlassen hat. Nun habe ich aber doch ein bisschen die Nase voll, ich möchte weiterfahren, doch Ahab Genista sträubt sich, mit irr flackerndem Blick hält er die Angel ins Gewässer, während er mich bezichtigt, der Erfüllung seines vom Schicksal auferlegten Auftrags im Weg stehen zu wollen. In so einer Situation hilft nur resigniertes, dumpfes Brüten. Nach einer Viertelstunde zeitigen die Resignationsstrahlen, die ich aussende, den gewünschten Effekt. Beleidigt holt Genista den Köder ein und wir nehmen auf dem Creek Kurs nach Norden.



Wir sind noch nicht weit gepaddelt, als wir ihn sehen: Groß und braunschwarz versperrt er uns den Weg, respektvoll drosseln wir das Tempo. Ein strenger Geruch steigt uns in die Nase. Tatsächlich, das ist ein richtiger, ausgewachsener Biberdamm, die Trapper haben nicht übertrieben. Die Zweige der obersten Schicht tragen noch ganz frische, grüne Blätter, sie wurden offensichtlich erst in der vergangenen Nacht hier abgelegt. Wir setzen das Kanu mit der Nase auf den Damm, dann müssen wir aussteigen, mitten hinein ins schwankende Gezweig, und ziehen. Der Damm ist etwa einen Meter hoch, auf der anderen Seite ist der Wasserpegel niedriger. Das Kanu liegt jetzt auf dem Scheitelpunkt den Damms wie auf einer Wippe. Ich sehe unsere Ausrüstung im Geiste schon in stinkendem Biberexkrementschlamm versinken, aber als wir dem Boot einen beherzten Schubs geben, vollführt es einen vorbildlichen Stapellauf. Wir bugsieren das Kanu ans Ufer, spülen den dubiosen Matsch von unseren Füßen und steigen ein.



Mit dieser Methode überwinden wir auch Biberdamm zwei und drei. Wir finden inzwischen, dass die Natur ganz schön nerven kann. Derbe Unmutsäusserungen gegen die Biber werden laut. Damm Nummer vier bringt uns zum Schweigen. Das ist eine Zumutung von einem Biberdamm, an der anderen Seite geht es zwei Meter in die Tiefe, nie und nimmer werden wir das Kanu komplett mit Inhalt dort hinunterbefördern können. Wir überlegen, ob wir uns womöglich verfahren haben, als wir jenseits des Dammes ein flaches, gerodetes Uferstück entdecken, zu dem ein Pfad führt. An unserer Seite ist der Zugang zum Pfad hinter niedrigem Weidengezweig versteckt, deshalb hatten wir ihn zunächst übersehen. Es ist nicht ganz einfach, das Kanu durchs Gestrüpp zu bugsieren. Als ich aussteige, sinke ich knöcheltief in schwarzen Morast ein. So waten wir, das Boot schiebend und ziehend, die Umleitung entlang zum rettenden Uferstreifen. Das Ufer ist einen halben, steilen Meter hoch, also müssen wir das Kanu parallel zur Böschung ins Wasser setzen. Achtzig sperrige Kilogramm wolllen präzise bewegt werden und dürfen auf keinen Fall im falschen Moment herunterfallen. Wider Erwarten gelingt das delikate Manöver. Wir haben den Biber besiegt.

Der Triumph währt jedoch nicht lange, die nächste Schikane wartet bereits in Gestalt der längsten Portage dieser Etappe. Drei mal 730 Meter (mit Gepäck, ohne Gepäck, mit Kanu) liegen vor uns. Das Portageschild, das oberhalb des steilen, steinigen Ufers an eine stattliche Rotkiefer gepinnt ist, hängt in Fetzen herunter. Wir wundern uns über diesen sinnlosen Akt von Vandalismus. Als wir uns das Schild näher ansehen, stellen wir fest, dass es mehrere, parallele Risse hat. Einer davon beginnt, deutlich erkennbar, nicht am Rand des Bogens, sondern in seinem Inneren. Ich fasse das Schild an. Es besteht aus glatter, nahezu unzerreißbarer PVC-Folie.



Ich weiss, wie es nun weitergehen wird. Ich habe in meinem Leben genug Horrorfilme gesehen, um die ehernen Gesetze der Dramaturgie zu kennen. Vergangene Nacht habe ich ein Buchkapitel über Bärenattacken gelesen und ich bin mit jemandem unterwegs, der auf meine vollkommen vernünftigen und gerechtfertigten Bedenken hin achselzuckend verkündet hat, er "glaube nicht an Bären". Wir haben Bärenprankenabdrücke gesehen, wir haben gesehen, was Bärenklauen mit einem Stück PVC-Folie machen können. Die Szene, in der wir dem Bären begegnen, steht jetzt also unmittelbar bevor. Er wird hinter einer Wegbiegung auf uns lauern und zunächst den Ungläubigen fressen. Dann wird er mich stundenlang durch den Wald jagen, und schließlich werde auch ich aufgefressen werden.

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