Kapitel 1
Kanadas sengende Sonne
Teil 3


Eine merkwürdige Atmosphäre geht von belebten Orten aus, wenn sie nicht mehr belebt sind. Leere Schulgebäude wirken bedrohlich, leere Ämter sind erfüllt von unaufhörlichem Rascheln und Knistern, und leere Flughäfen wirken besonders seltsam. Als wären alle schon fort, abgeflogen, und nur man selbst zurückgeblieben. Sie wirken friedlich, aber nicht wie ein stiller Ort in grüner Natur, sondern wie ein Friedhof. Geschlossene Duty-free-shops, Gepäckbänder, die still stehen und keine Koffer im Kreis fahren. Türen, die geschlossen sind.
Nur daß dieser Flughafen nicht leer war. Alles andere als das. Die Gepäckausgabehalle war ein unüberschaubares Gewimmel von Menschen und Koffern und noch mehr Menschen. Große Säulen spieen Gepäck in das Chaos, immer noch mehr Gepäck, und das gierige Monster, dieser Ameisenstaat aus Reisenden, verschlang alles und bekam doch nie genug. Überall ratlose, leere Gesichter, hungrige Blicke flackern unstet auf der Suche nach einem bestimmten Leckerbissen, einem bestimmten Material. Leder, Plastik, Koffer, Tasche. Und unter all diesen Hungrigen steht K. und versucht, die Gepäckausgabe für seinen Flug zu finden. Die natürlich längst geschlossen ist.
Nirgendwo findet er daher die Flugnummer, nirgendwo steht Frankfurt. Nirgendwo kreist sein Gepäck um eine der Säulen. Noch immer ist es kalt.

Der Beamte von der Gepäckaufsicht schickt K. zu zweien der Säulen. Ob er da schon nachgesehen habe? Unterwegs hört er jemand anderen nach seinem Gepäck fragen, der auch aus Frankfurt gekommen war. Er suchte an einer anderen Säule. Ob er dorthin von einem anderen oder demselben Beamten geschickt worden war, war nicht zu verstehen.

Diesmal kramte der Gepäckaufseher ein Formular hervor, auf dem K. genau angab, wie sein Koffer und seine Tasche ausgesehen hatten. Farbe. Form. Sobald gefunden werde ihm das Gepäck nachgeliefert. Sobald er seine Adresse wisse, solle er anrufen, dann gehe schon alles klar. Dann werde nämlich alles gut.
K. bezweifelte es nicht. Und verließ schließlich die Halle ohne Gepäck. Wie ein Hammer kam die Hitze auf ihn nieder. Boing.

Unerbittlich glühte eine grelle Sonne von einem wolkenlosen, grellblauen Himmel. Eine staubige Straße lag vor ihm, über der die Hitze flimmerte. Ein staubiges Parkhaus erhob sich kilometerhoch in das verbrannte Blau. Und vor K. stand Douglas mit besorgtem Gesicht. Das Jahr im Flughafen hatte tatsächlich knapp eineinhalb Stunden gedauert, in denen Flughafenangestellte mehrfach bestätigt hatten, daß noch nicht alle Passagiere aus Frankfurt den Ausgang gefunden hatten.
Das Fehlen der Gepäckstücke führte dazu, daß weniger in den Kofferraum einzuladen, und das Einsteigen in das im Parkhaus vor dem Flughafen abgestellte Automobil insgesamt flotter vonstatten ging. Ein Vorteil aber, der K. nicht einfallen wollte, war er doch soeben erst aus der brütenden kanadischen Hitze in die relative Kühle des Parkhauses gelangt und noch nicht in der Lage, menschlich zu denken.
Das Fahrzeug verließ wie von Geisterhand bewegt das Parkhaus. Ein kurzer Blick belehrte K., daß tatsächlich Douglas die Armaturen bediente und das Lenkrad bewegte. Keine Geisterhand in Kanada also vorerst, aber kaum waren das schützende Betondach und das Betonparkhaus darunter verschwunden, stach Kanadas sengende Sonne wieder unerbittlich kleine Löcher in die Windschutzscheibe. Kanadische Geisterlöcher.
Ein schwerer Panzer folgte nun dem Wagen. Die kanadische Armee war auf dem Posten, und nicht nur auf dem Weg nach Ost-Timor, um für Recht und Ordnung zu sorgen, sondern auch hier auf ihrem Posten. Niemand reiste ungestraft in diese Hitzewüste, niemand gelangte hinein ohne einen Geheimdienstkanadier im wummernden Panzerwagen hinter sich. K. drehte sich um und erwartete, einem Feldstecher in die winzigen Äuglein zu blicken, aber hinter dem Wagen wie vor ihm erstreckte sich bis zum Horizont eine weit ausgebreitete Straße, über der Hitze blaß glomm. Weit, hinten, fern und wabernd, eine Herde Kamele und eine Palme mit Gewässer. Genauer gesagt, eine lange Kette von staubigen Autos im grellen Gegenlicht. Und das Geräusch natürlich des Panzerwagens.
Das Auto sei nicht ganz in Ordnung, sagte jetzt Douglas vom Fahrersitz her. Der Auspuff habe ein Leck und mache Lärm, ein Geräusch sei also nicht zu vermeiden. Finsterer strahlte die Sonne.
Also schön, dann eben kein Panzer. K. schraubte heftig. Durch einen Spalt, den er ins Fenster hineingeschraubt hatte, strich kühlende Heißluft ins Innere. Nur noch 40 Grad waren es jetzt. Oder vielleicht 50, höchstens.
Der Wagen raste, noch immer verfolgt vom eigenen Auspuff, die Straße Nummer 401 hinab nach Westen. Hielt an einer Kreuzung ratlos inne. Schien sich zu besinnen, verließ schließlich den Highway, um ihn nach einer eleganten Kurve auf der Gegenseite unerwartet wieder zu befahren. Und raste, ein Geräusch im Schlepptau, den Highway 401 hinauf nach Osten. Dann verdampfte die Straße in der Hitze und eine Laterne kippte um. Oder vielmehr, wurde aufgerichtet. Stand nun hoch und breit am Rand einer Straße. "Hier wohne ich", sagte Douglas und deutete auf die Laterne. Eigenartiges Land, dachte K., als er ausstieg. Die Hitze blieb im Auto sitzen, schwerfällig und dumm, die Bäume spendeten milden Schatten, vereinzelte Vögel standen geparkt am Straßenrand. Die Temperatur betrug angenehme 22 Grad. Und zusammen mit dem Gefühl, angekommen zu sein, machte sich die Vorahnung einer wichtigen Frage in K. breit, die sich jedoch nicht packen lassen wollte. Nichts fiel ihm ein.. "Sind das echte Ziegel?"
Der Aufzugboden war tatsächlich geziegelt, aber das war nicht die gesuchte Frage. Denn die gesuchte Frage war sehr wichtig, Ziegel waren das im Allgemeinen nicht.

Auf dem Balkon hatte er über den weiten High Park hinweg den ersten Blick auf den See genossen. 17 Stockwerke unter ihm lag eine weite Fläche grüner Bäume. Ein angenehm leichter, warmer Wind umsauste ihn. Er war angekommen.

Weiter zu Kapitel 2.