Kapitel 2
Ahorntaschen zum Frühstück
Teil 3


Nach der Rückkehr zur Harrison Street hatte K. Gelegenheit, unter Verwendung seines neuen Schlüsselsets seine Schließkünste zu erproben. Sie waren nicht besonders weit entwickelt, wie sich herausstellte. Oder vielleicht mehr auf europäische Schlösser hin ausgebildet. Zuletzt und nach längeren Versuchen aber gelang nicht nur das Entriegeln der zahlreichen Türschlösser praktisch reibungslos, sondern auch das Verriegeln stellte kaum noch ein Problem dar. Und selbst das hartnäckig verriegelungsunwillige untere der beiden Wohnungstürschlösser fügte sich jetzt und riegelte. Nichts weiter, hatte K. eingesehen, war dafür nötig, als den Schlüssel nicht ganz ins Schloß einzuführen und ihn, einen Millimeter vor dem Anschlag, nach rechts zu drehen. Denn in Kanada schloß man rechtsdrehend. Oder jedenfalls dieses Schloß schloß so. Schloß K.
Von innen aber war das alles ein Stück Kuchen und im Nu geschehen. Klicklack. Zu. Genug Zeit also, sich alles genau anzusehen. Hier also wölbte sich weit vor das Haus hinaus das große, mehrteilige Frontfenster. Aus dem heraus an Halloween die Kinder hervorragend erschreckbar sein mochten. Und man sich selbst beim Riegeln hätte beobachten können, wenn man schon hier drinnen gewesen wäre, damals, bzw. vorhin.
Vor dem Fenster ruhte ein großer Zeichentisch, dessen obere Seite schräg abgesägt war. Oder vielmehr dessen Platte abschüssig verlief. Und die Arme stützte. Saß man dort, konnte man an Halloween sogar die erschrockene Jugend zeichnen, und sich zugleich sicher sein, daß man selbst kein schlimmeres Monster als sich selbst im Rücken sitzen hatte. Denn im Rücken hatte man ja, getrennt von diesem Vorraum nur durch eine Theke, eine kleine Küche. Und kein Monster. Wieso auch?
Eine gleiche Theke trennte nun aber die Küche vom Sitz- und Fernguckbereich, der mit hineingestellten Sofateilen und Sessel nebst Kaffeetisch wohnlich hergerichtet war. Dem Fernseher freilich mangelte es am Kabelanschluß und damit an Programmen. Douglas erwähnte es sogleich. Und wirklich, wußte man erst um die Armut des Programmes schien dieser Fernseher sogleich wie das in der Küche noch glücklich vermiedene Monster. Erschreckend. Grauslich. Zwei Programme nur führte das Monster, eines verrauscht. Eine widernatürlich große Bildschirmdiagonale von Pidaumen 30 Zentimetern pro Programm. Oder sogar noch mehr. K. schauderte.
Gleich gegenüber dem Fernseher, und neben der Küche also, führte eine Stiegenflucht steil hinab. Kalt wehte es da aus der Tiefe. Vom vorherigen kurzen Besuch dort unten wußte aber K., daß nicht etwa Schlimmes, sondern ein Schlafraum, die Toilette und ein Vielzweckraum mit Sofamöbel darin dort unten harrten und lockten. Vorerst aber lockten sie ins Leere, denn neben dem Fernseher, an der Hausesrückwand, lud eine Tür die Besucher freundlicher ins Freie, auf eine hözerne Treppe und überraschend in die Tiefe, für eine paarquadratmetergroße gesteinte Senke, hinter der nach steigenden Stufen auf Haushöhe ein kleines Stück zu Rasen begann. Hihi. Ohne "zu" natürlich.
Und unten, in der Steinsenke, neben dem Verandaplastiktisch und seinem Verandaplastikstuhlkind, gepfercht sozusagen unter die Holzbank, angehobbelt im dunklen Schatten, lauerten abermals keinerlei finstere Gestalten aus fremder Leute Alpträumen, sondern vielmehr die von der Fluggesellschaft wohlmeinend dort abgetanen Reisetaschen. Samt Inhalt wohl; K. hoffte es lächelnd.

Douglas hatte die Gelegenheit, die Monsterlosigkeit erkennend, beim Schopfe gepackt und mit sich zur Türe hinausgeführt, wo K. sie, so war es ausgemacht, am Abend wiederfinden sollte. Bei einem Abendessen vom Feinsten.
Vorerst schleppte K. jedoch seine Taschen die steile Stiege hinab, keuchend, denn sie schienen ihm um so viel schwerer als während der Reise und im Flughafen. Wobei er dort doch krank und schwach gewesen war. Rätselte er, bis ihm einfiel, daß er sie dort ja praktisch gar nicht zu tragen, nämlich verloren gehabt hatte. Da war dann alles klar.
Nicht mehr so klar freilich war ihm dann Verschiedenes, als er knieend die dunkelrote Reisetasche sich genau besah. Die Tasche hatte schon vor Beginn der Reise kleine Schäden aufgewiesen, hier ein Riß im Gewebe, dort eine fehlende Lasche. Ein Reißverschluß, der nicht mehr tat, was er sollte. War also kaputt gewesen. Nicht in Ordnung. Und zumindest das, nicht in Ordnung, war auch was K. jetzt entdeckte. Denn die Tasche war einwandfrei. Tiptop. Und trug zu allem Überfluß auch noch ein kleines rotes Ahornblatt an einer Seite. Wie aufgeklebt - oder aufgenäht? Hatte das schon in Stuttgart dort geklebt? Oder genäht? K. versuchte sich zu erinnern, und während die Taschen fremder Menschen sein Seelenauge passierten und er auf die seine wartete, fiel seinem Unterleib ein Gluckern ein.
"Ach Du liebe Zeit", dachte K. Und spürte wie jedesmal, wenn es auf die Toilette ging, eine Unrast nah' der Verzweiflung. Die Zeit dort, sitzend, wollte gut genutzt sein und nicht verschwendet durch das Starren auf längst gründlichst leergestarrte Flecken Wand. Rasch zog er den Reisverschluß auf, wußte um seine Bücher in der Tasche. Griff hinein. Und zog eine erstaunlich schwere, dunkel gefärbte Scheibe hervor. Vielleicht zehn Zentimeter durchmessend war die Scheibe. Und erstaunlich schwer war sie, weil sie offenbar nicht aus Metall, sondern aus einer Art Kunststoff war. Und halt eben doch wieder ziemlich schwer. Es gluckerte erneut vehement. Stöhnend packte K. den mäßen Buchersatz und verfügte sich auf die Schüssel.

Er verbrachte dort eine geraume Weile, in der er mächlich driftend, versuchte die Geheimnisse der Scheibe aus ihrem schwarzen Gesamteindruck herauszulesen, und nebenbei mit wenig Zufriedenheit die Rückkehr des Fluches zu vermerken. Abendessen ade, dachte er. Und dann: Das ist Montezumas Rache! Wieso nun dachte er das? Ruhe schien doch eingekehrt, und er verrichtete die nötigen Dinge. Schon verließ er die Toilette.

Seit zwei Minuten betrachtete K. staunend seine Tasche. Die, er staunte, vollkommen Wiederhergestellte, oder vielmehr: die von neuem ordnungsgemäß Defekte. Und auch wieder Leichtere. Zu schweigen ganz von: Wieder Geschlossene. Und: Nicht Mehr Mit Einem Ahornblatt Beklebte. Leise Hoffnung lachte hell. Er zog sacht den Reißverschluß auf. Tatsache! Mensch! Die Sein Eigenes Gepäck Enthaltende!
Gedankenverloren deponierte er die Scheibe, die er noch in der Hand gehalten hatte, wo sie Platz fand, und begann, die Tasche auszuräumen. Süßes Wiedererkennen in der Fremde, dachte er, und wunderte sich zugleich darüber. Jeder Gegenstand brachte eine merkwürdige Mischung aus Wiedererkennen und Vertrautheit, aber auch den Schwindel großer Entfernung. Ui, das kreiselte. Als werde der Abstand mit jedem Baumwollfädchen, das ihn überspannte, größer und größer. Oder vielmehr, tiefer. Wie ein Graben. Der große Graben Atlantik.
Am Ende, die Kleidung sauber gestapelt, die Reiseführer zum Altar gerichtet, war ein Stück Zuhause in den Vielzweckraum getragen worden. Oder vielleicht auch nur reingeguckt. Das Reisenecessaire stellte die Fotografie gerne zur Verfügung, mit der er den Altar vervollständigte. Und kurz betrachtete. Dann mußte er fort. Dringende Geschäfte, Sie verstehen?

Als er diesmal die Toilette verließ, trug er einen Reiseführer in der Hand und die Furcht im Herzen, abermals eine Nacht in merkwürdiger Weise zu verbringen. Oder trug er seine Furcht im Magen spazieren? Und stattdessen den Reiseführer im Herzen? Oder im Zwölffingerdarm? Dem Wurmfortsatz? Bestimmt war es so.

Nur einmal noch an diesem ersten Tag dachte K. kurz an die Ahorntasche. Der Film, den Dean, Douglas, er statt des Abendessens sahen, pausierte kurz, und die halbgegessenen Teile portugiesischer Hähnchen in K.s Pappschale, geilten ihn an. Beiß uns. Er tat es dennoch nicht. War das Ahornblatt angeklebt gewesen, fragte sich K., oder angenäht? Geschweißt? Und war es wirklich da gewesen, oder nur eine verwirrter Spätgluckser des Fiebers. Die Krankheit mit dem Blubb? Es gluckerte ja tatsächlich jetzt. Das aufdringliche Angebot des Geflügels wurde endgültig abschlägig beschieden, das Betrachten des Filmes fortgesetzt, als Dean aus dem Keller zurückkehrte.
"Komisch", dachte K. beiläufig. "Ich habe ja gar keinen Jetlag". Und dachte nicht etwa an seine wichtige Frage. Schade. Und um so bedauerlicher, als der erbärmliche Ersatzgedanke so gründlich falsch war, wie nur je ein Ersatzgedanke falsch gewesen ist. Wie man gleich sehen wird.

Weiter zu Kapitel 3.