15 Joe Lake - Toronto



Am Morgen öffnet sich die Zelttür auf eine trübe Tasse Wasser. Der Sturm in der Nacht hat den letzten Rest Sommer weggeblasen, Joe Lake liegt grau in der Kälte. Lebte ich hier, und trüge ich einen enormen Bart und eine Jacke aus selbstgegerbtem Leder, ich streckte jetzt vielleicht prüfend die Nase in den Wind und sagte: der Winter kommt. So, ohne Bart und Jacke, denke ich es bloß. Schlotternd gießen wir uns Oatmeal und heiße Schokolade in die Leiber, packen zum letzten Mal das Lager zusammen und legen ab.

Unser erstes Ziel für den Tag ist eine alte Sägemühle, die ich gestern während des Sturmes auf der Karte verzeichnet fand. Nur ein paar Schritte südlich des Zeltes musste sie liegen, das hatte ich mir tapfer aus Pi, Daumen und ausgestrecktem Arm zurechttrianguliert. Eine halbe Stunde irrten wir auf der Suche nach einem Sackhängebaum durchs feuchte Gebüsch, bergauf und bergab, nachdem wir einen gefunden hatten spähte ich noch ein wenig weiter, kehrte aber schließlich um, ohne Mühle im Erlebnisgepäck, dafür hatte ich einen Riesenhaufen Bärenlosung gesehen und diese Entdeckung taktvoll verschwiegen. Zurück am Zelt rechnete ich erneut, wedelte mit dem Kompaß, bestarrte die Karte und dachte mir 400 Meter als neue Entfernung zur Mühle aus.

Kaum haben wir nun die Ufernähe verlassen, sehen wir die alte Anlegestelle, genau wo ich sie berechnete. Kurz staune ich über diesen Triumph moderner Navigationsmethoden, dann legen wir an und machen das Kanu am bröckeligen Beton fest. Von den Mühlengebäuden ist nichts mehr übrig als ein paar Brocken Stein und einige Fundamente, in einer überwachsenen Grube liegt ein verrostetes Turbinenstück. Hier sieht es aus, als seien die Mühlenbetreiber nur schnell aus dem Raum gegangen, als sei der Raum und das ganze Gebäude dann in Sekundenschnelle zerfallen, zu Staub zerrieben und vom Wind verstreut worden, und als seien dann im Zeitraffer Gras und Gebüsch drüber gewachsen. Der Schein trügt jedoch, es ist Jahrzehnte her, daß hier zuletzt zu Mittag gegessen oder Holz zersägt wurde.



Ein Stück abseits vom Startpunkt der Portage, die uns von Joe Lake zu Canoe Lake bringen wird, stand zu den Zeiten, in denen der Park Hochkonjunktur hatte, das Algonquin Hotel, ein stattlicher Holzbau, in dem Tom Thomson die kanadische Kunst mit raschen Pinselstrichen neu gestaltete. Wir gehen die paar Schritte zum Hotel, über den Waldweg ist in der Nacht zuvor ein kleiner Baum gefallen. Wo das Hotel stand, ist ein rechteckiges Loch im Wald, nur Gräser und Blumen gibt es, vermutlich liegt zu wenig Erdreich über dem Fundament.

Der Weg zur Portage dann ist blockiert von einem ausgewachsenen Baum. Einen halben Meter durchmisst der Stamm an der Stelle, an der er gebrochen ist vielleicht zehn Meter lang sind Stamm und Holztrümmer. Während wir mühsam das Kanu übers Hindernis wuchten, denken wir zurück an den angesägten Baum neben unserem Zelt und an die stürmische Nacht und daran, dass der angesägte Baum neben unserem Zelt, wäre er gestürzt, vermutlich auf unser Zelt gestürzt wäre, und von dort praktisch ungebremst weiter auf die schlafenden Uns. Wir hätten es nicht überlebt. Gut, daß es anders kam.



Auf Canoe-Lake haben wir noch eine letzte Attraktion auf dem Programm. Hier gab es vor über hundert Jahren eine kleine Siedlung, Mowat, auf unserer Karte ist sie verzeichnet, aber vom See aus ist nichts zu sehen. Wir steuern das Kanu in ein flaches Sumpfgebiet, machen es schließlich am Rand eines Feldweges fest und steigen aus und direkt in die Überreste eines Massakers. Dutzende Eierschalen liegen auf dem Weg verstreut, ein dreissig Zentimeter tiefes Loch klafft. Ein Schnappschildkrötengelege wurde Opfer eines Eierdiebes. Auf ungefähr 10.000 gelegte Eier kommt eine überlebende Schnappschildkröte - die Zahl habe ich mir soeben ausgedacht, die Botschaft stimmt. Schnappschildkröten sind lausige Fortpflanzer.

Wir gehen hundert Meter den Weg entlang, zwei-, dreihundert, längst müssten wir die Geisterstadt passiert haben, aber es ist nichts zu sehen im lichten Wald. Plötzlich stehen wir vor einem Privathaus mit Geländewagen und Boot davor, verlassen liegt es da, wie in einem Horrorfilm. Es klingelt aber kein Telefon, also drehen wir um, und sehen auch auf dem Rückweg keine Geisterstadt, keine alten Schilder, die im Wind sachte schaukeln, nur Baum, und Baum, und wieder Baum. Bei den Eierschalen biegen wir rechts ab, steigen zurück ins Boot und paddeln in den wiederauffrischenden Sturm.

Wir halten uns nahe am Ufer, solange es möglich ist, paddeln im Windschatten einer der Inseln, aber zuletzt müssen wir doch hinaus auf den hohen See, meterhoch schwappen die weißgekrönten Wellen gegen die Bordwand, mehr als eine schickt eine Vorhut an Bord und wir paddeln was die müden Arme hergeben. Wenn der Wind noch ein wenig stärker, die Wellen noch ein wenig höher werden, holen wir uns nasse Füsse, tränken die Ausrüstung oder kentern gar, in Sichtweite des Zieles, das quälend langsam näher rückt. Bliese der Wind aus der Gegenrichtung, wir hätten kaum eine Chance, so aber ackern wir uns Stück um Stück durch die Brecher in die Bucht. Während wir das Kanu auf den flachen Kiesstrand ziehen, legen am Kanuverleih gegenüber zwei Tagesausflügler ab, unbedarft, unsicher. "You'll be fine", ruft der Verleiher ihnen nach. Glatt gelogen, alte Buschhasen wie wir wissen das und werfen sich vielsagende Blicke zu.



Seltsam ist es, nach nur zehn Tagen in der Einsamkeit wieder in die Zivilisation zurückzudriften. Seltsam, einen Burger zu bestellen. Seltsam, in einem Lieferwagen zu unseren Ausstattern zu fahren ("These waters are pretty dead for fish", sagt der Fahrer und bewirkt das Kunststück, daß ich mir gleichzeitig weniger doof und doofer vorkomme als zuvor). Seltsam ist es, im Taxi zurück in die kanadische Kleinstadt zu fahren. Und die Lichter und Menschenmengen Torontos sind vollends ganz erstaunlich. Ein paar Minuten lang. Dann sind wir zurück.


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