Kapitel 2
Ahorntaschen zum Frühstück
Teil 2


Verwirrten Sinnes sah K. der Speisekarte ins Gesicht. Ihm unbegreifliche Dinge waren dort gelistet sonder Zahl, Bacon, Ham, Eggs in verschiedener Anordnung und Anzahl, flankiert von Toast und von Pancakes, von Kaffee und von Tee. Honig. Sirup. Kartoffeln. In Windeseile hatten Dean und Douglas ihre Wahl getroffen, und mit einem Gefühl bodenlosen Schwindels starrte K. auf die Karte. Welches wohlschmeckende Gericht sollte er nur wählen?
Die verschiedenen Möglichkeiten schienen gemeinsam in ein großes, buntes Karussell einzusteigen und im Kreis zu fahren. Toast und Schinken? Mit Pfannkuchen? Oder doch lieber mit gebackenen Bohnen und Ei? Und dazu Marmelade? Verzweifelt verstärkte K. seinen Griff um die Karte und hörte nicht, wie die beiden Brüder eine hitzige Diskussion begannen. Ei? Oder Schinken? Oder beides?
"Nekton", sagte da Douglas. K. blickte auf, froh um die Abwechslung, zugleich aber wachsam. Rasend schnell schossen englische Ausdrücke durch sein inneres Mittelohr, keiner schien zu passen. Nichts Englisches klang wie Nekton. "Net on?" Das war ja ganz sinnlos. "Night on" nicht minder. Und klang auch ganz anders. "Knacton?" Reiner Quatsch. "Your order please"? Auch Unfug, das klang ja nicht einmal wie "Nekton". Das würde vielmehr die Bedienerin gleich fragen, ihn nämlich fragen, und er wußte immer noch keine Antwort. Dean aber wußte eine.
"So what's that?"
Oha, nein. Dean wußte eine Frage. Hatte nicht irgendwer gesagt, eine Frage sei so gut wie eine Antwort, nur interessanter? Und sollte er den Toast mit Schinken oder besser mit Ei essen? Auch eine gute Frage, aber das unbestimmte Gefühl, daß ihm zumindest hier die Antwort lieber gewesen wäre, wollte K. nicht loslassen. Ach, Kuckuck! Er wählte blind eines der fertig zusammengestellten Frühstückssets, es konnte ja nichts schiefgehen. Zahllose Besucher hier hatten das betreffende Frühstück schon vor ihm bestellt, und immer noch stand es auf der Karte droben und konnte bestellt werden. Also würde er ganz einfach Nummer Drei bestellen. Obwohl es hier Ketchup zum Speck gab, wie er scharf erspähte. Also vielleicht doch besser Nummer Vier.
"Nekton", sagte Douglas nun erneut, mit gegenfragendem Unterton. Und erläuterte bereitwillig die Unterschiede zwischen Plankton hie und Nekton da, deren eines die im Wasser schwebenden Lebewesen bezeichnete, während das andere all jene Geschöpfe Gottes umfaßte, die aktiv, mit eisernem Willen und vermöge der abenteuerlichsten Fortsätze die sieben Weltmeere durchpflügten. Eine äßerst wertvolle Information, da waren sich alle schnell einig. Die in mancher Unterhaltung darüber hinaus mit Gewinn einzusetzen war. "Are you familiar with the Nekton problem. I'm an expert there, you know." Und jede Gespräch gehört dem Experten. Ganz allein ihm.
Die Bedienerin blickte kurz drohend in Richtung der Meeresforscher, setzte dann zum Angriff an, schwenkte jedoch überaschend in die Raucherabteilung ab. Kehrte zurück. Und begann, Teller zu sortieren. K. vergewisserte sich mit einem raschen Blick in die Speisekarte seiner Wahl. Die Bedienerin begann eine Unterhaltung mit einer Kollegin und blickte dabei aus dem Fenster, wo, dem Namen des Lokales wie zum bösen Trotz, statt Seeblickes ein Straßenseitenanblick lockte. Häuser. Endlich wandte sie sich, von Kollegin und Architektur gelangweilt, um. Schnappte zwei Teller und machte sich erneut auf den Weg zu den Rauchern.
Schnell sei nicht das Wort der Stunde, wo es um die Beschreibung der Qualitäten der Bedienerin gehe, bemerkte Dean. Auf Englisch. K. verstand kein Wort, nickte jedoch freundlich und lachte, weil er sah, daß Douglas das tat. Er kontrollierte ein letztes Mal seine Wahl. Schwankte. Und entschied sich für eine andere Zusammenstellung von Leckereien. Mit gebackenen Bohnen. Dafür ohne Ei.

Schließlich gelang es doch noch zu bestellen. K., der versucht hatte, den Anweisungen der beiden anderen zu folgen, aber gescheitert war, entschied sich in letzter Sekunde für eine bislang unberücksichtigt gebliebene Frühstücksvariante und wollte schon erleichtert über die endlich gemeisterte Hürde die Karte sinken lassen, als er etwas hörte, das wie eine Frage klang. Die ihm galt.
Unstet wanderte sein Blick durch die Reihen der Sitzenden, auf der Suche nach einer Hilfe, einem Hinweis. Der Lösung des Rätsels. Natürlich war da aber rein gar nix.
Die Bitte um Wiederholung der Frage führte zu nichts. "Egglmurblewarbrownget?", hörte er ungläubig. Das war doch keine Sprache! Vermutlich galt die Frage der Beschaffenheit der Spiegeleier, von denen er kaum geahnt hatte, daß er sie bestellt hatte. Hatte er aber, wie ein kurzer Gegencheck in der Karte ergab. Abwartend stand die Bedienerin. Kleine Perlen kalten Schweißes stahlen sich nicht auf K.'s Stirne, denn in einem kühnen Schachzug rettenden Ausmaßes wiederholte er, was er Dean auf eine ähnlich klingende Frage kurz zuvor hatte sagen hören. Ein Geräusch ohne Bedeutung für ihn, eine Welt für die Bedienerin. Rasch rauschte sie ab.

Wenig später ging der bestellte Segen nieder. Douglas erhielt, zusammen mit einem nicht zu kleinen Fläschchen voller Ahornsirup, einen kleinen Berg Pfannkuchen. Dean hatte dünnen gebratenen Schinken mit Ei und vor K. stand ein Teller mit dicken Schinkenscheiben und einem weiteren Ei. Das, bei näherem Hinsehen, dem auf Deans Teller gar nicht wenig ähnelte. K. erriet Zusammenhänge. Verstohlen lächelte ein kleines Döschen gebackener Bohnen durch die Kartoffeln, die K.s Teller links vom Ei und rund um den Schinken fest in ihrer Gewalt hatten. Fett war das fürchterliche Werkzeug ihrer Herrschaft.
Frühstück, dachte K., in der neuen Welt. Und schnitt ein Stück vom Schinken weg, das gar nicht übel schmeckte. Sondern im Gegenteil nach Schinken selber.

Am Ende, den Teller sauber geleert und die letzte der gebackenen Böhnchen (davon hätten es, fand K., mehr und von den schwergängigen Kartoffeln die ein oder andere weniger sein dürfen) beherzt in den Rachen schiebend, horchte K., ängstlich und aufmerksam, in sich hinein. Lauschte jeder inneren Stimme. Und hörte nichts. Stille rumpelte dort drinnen. Und nicht etwas ein wildes Gluckern. Zum Beispiel. Wie zufällig fiel sein Blick auf das nun leere Töpfchen mit den Bohnensoßenresten. Noch immer Stille. Hoffnung blühte. Geld wechselte abrupt den Besitzer.

Draußen auf der Straße nahm Dean die andere Richtung. Ein Tag bei der Arbeit lag vor ihm. Toronto lag vor K. und wurde in einem Spaziergang erkundet. Kensington, ein Viertel, in dem die Mieten erträglich sein sollten, machten einen freundlichen und lebendigen Eindruck. Zahlreiche Obststandinhaber standen in ihren Ständen und verkauften Obst. Zu ruinösen Preisen. K. erwog, das Mißgeschick zur Sprache zu bringen, um so vielleicht die ökonomische Existenz dieser freundlichen Menschen zu sichern, entschied sich aber dagegen. Weil es halt so gut schmeckte. Und so billig war. Kensington endete an Spadina Avenue, gegenüber lachte Chinatown, oder vielmehr: eine der vier Chinatowns, lachte und machte schmale Augen und seltsame Zeichen auf seine Fassaden.
K. erinnerte sich an ein Foto, in dem er diese asiatischen Zeichen und diese Fassaden gesehen hatte, und davor war nicht diese hell beschienene Straße gewesen, sondern eine Eiswüste, und die Menschen waren nicht langsam spaziert, sondern schräg geblasen vom eisigen Wind durch die peitschenden Kristalle gehuscht, kaum zu sehen im Gewirbel. Oder war das auf Yonge Street gewesen? Und gar nicht hier? Gleich war das Bild weniger drückend. Die Wärme des Herbsttages drang freundlich wieder durch. Und unten, in Richtung auf den See hin, den K. noch immer nicht gesehen hatte, ragte der CN Tower weit hinauf bis in die Stratosphäre mit seinem Glasboden und ein Aufzug schoß hinauf in den Himmel über der Stadt. Doch es waren keine Menschen drin, sondern nur Nekton, denn der Turm war zu hoch. Dachte K. Der Idiot.
Dann gingen sie zurück zur Harrison Street und dem kleinen Reihenhaus, hinter dem K.'s Koffer und Tasche schon warteten. Und in der Tasche vermutlich keine Überraschung. Jedenfalls keine kleine.

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