Kai Schreiber

Autor | Neurowissenschaftler | Sänger






Perry Rodent

Die Ratte des Universums

Folge 4 - Der König der Ratten

Was bisher geschah:

Die Einsatzgruppe "Dusty Star" hat den Käfig mit unbestimmtem Ziel verlassen und sich dazu mit Space Cakes Mut angeknabbert. Die Ratten haben sich getrennt, Perry Rodent und Ratty "Nerd" Bull, genannt Bully, entdeckten eine einzelne Fritte. Unterdessen trugen sich auch beim Rest der Einsatzgruppe erstaunliche Dinge zu. Ein unerwarteter Angriff erfolgte von den Mitgliedern des Verwandtenkorps, die das Kommando über "Dusty Star" übernommen haben. Noch ist jedoch nicht bekannt, wer hinter Hupsi und Dotz, den beiden Kämpfern des Verwandtenkorps, steht: Es ist DER KÖNIG DER RATTEN.

In der engen Höhle war kaum eine einzelne Ratte auszumachen. Nur gelegentlich schob sich eine Schnauze oder ein Schwanz aus dem in ständiger Bewegung begriffenen Haufen, und nur äßerst selten entfernte sich ein Mitglied der Familie, um außerhalb der Höhle etwas zu erledigen. Meist waren es dieselben, die Futter für alle beschafften oder den verdreckten und verkoteten Wasserzulauf an der Oberseite der Höhle reinigten, der Nachwuchs des Familiengebildes, dessen einzelne Glieder mit der Zeit längst beinahe ununterscheidbar geworden waren.
Und selbstverständlich entfernte auch Gaius sich häufig von der Familie; allerdings nicht, um einfache Arbeiten zu verrichten, oder um mit Futter das nackte Überleben der durch ihre schiere Zahl vom Erstickungstod bedrohten Familie zu sichern, sondern um endlich für rattenwürdige Verhältnisse in der Höhle zu sorgen, und um den gefährlichen Zustand drangvoller Enge zu beenden, von dem er Schlimmes erwartete, ohne zu wissen, was genau es war, das ihn sorgte.
"Wer zu oft die Schwänze kreuzt, kann sich nicht mehr kratzen" rezitierte er grimmig ein altes Sprichwort, und hüpfte aus der Höhle. Einige junge Ratten, die noch nicht so alt waren, daß sie in der Höhle leben mußten, hätten die Zuflüsse reinigen sollen, tollten jedoch ausgelassen über den harten Lehm, der das Dach der Höhle bildete und übereinander. Als sie Gaius kommen sahen, hielten sie verlegen inne, denn es war bekannt, wie der Alte reagierte, wenn er jemanden über jemand anderen klettern sah.
"Ihr kommt noch früh genug zu euern Eltern. Könnt es wohl nicht erwarten, in diesen Sumpf da drin einzusinken?" pfiff er scharf und ließ seine schwarzen Augen drohend blitzen.
Eingeschüchtert machten die Jungen sich, jedes für sich, an die Arbeit.
Das war es, was ihm am meisten Sorgen machte. Das Beispiel der Älteren, die sich derart unkontrolliert benahmen, verführte die Jugend und nahm ihr jeden Willen zum Widerstand. Die Lust, mit der seine Verwandten sich der Vermischung dort in der Höhle hingaben, widerte ihn an, und alleine schon deshalb nutzte er jede Chance, den Zustand, in dem die Familie sich befand, zu verändern.

*

"Es kann so nicht weitergehen, Kommandant Gershwin, es geschieht sonst ein Unglück", pfiff Gaius rasselnd. Seine schmalen, drahtigen Flanken bebten, seine Schwanzspitze zuckte in heilloser Erregung auf und ab. Endlich war es ihm gelungen, zum Käfigkommandanten Gershwin selbst vorzudringen, und er war nicht gewillt, diese Chance wie ein Stück zu harten Käse zu mißachten.
"Wir brauchen unter allen Umständen eine größere Höhle, ich habe das den niederen Ratten in der Verwaltung schon gesagt, aber alles was sie hervorbrachten, waren Ausflüchte unter Berufung auf dich. Jetzt, wo ich endlich mit dir selbst sprechen kann, bin ich sicher, wird die Sache sich klären lassen. Unsere Familie braucht mehr Raum"
Gershwin wechselte beim Wort Familie einen raschen, irritierten Blick mit seinem Höhlengenossen Mandala, der ihn bei seiner, zur Zeit mehr als unerfreulichen Aufgabe unterstützte, und seufzte, als dieser sofort begann, sich ausgiebig zu putzen. Ratten!, dachte Gershwin.
"Du stellst dir das ein wenig zu einfach vor, mein lieber Gaius. Wir haben im Moment", er zögerte, "selbst einige Probleme. Es gibt zu viele Ratten im Käfig, und zu wenig Raum, um neue Höhlen zu graben. Du wirst dich vielleicht an das erinnern, was unsere Eltern gelegentlich erzählen, daß früher der Käfig gewachsen sein soll, wenn wir zu viele waren, und daß manchmal welche von uns verschwanden, aber beides ist jetzt schon lange nicht mehr geschehen. Es ist überall eng, Gaius, und auch wenn ich dir glaube, daß es in deiner Höhle am schlimmsten ist, kann ich dir nicht helfen. Außerdem habe ich jetzt leider zu wenig Zeit. Aber vielleicht könntest du mir", Gershwins Schnurrhaare virbrierten mißtrauisch, "ein andermal erklären, was eine Familie sein soll."
Eine Pause trat ein, in der man nur die leisen Putzgeräusche Mandalas hörte, dann sagte Gaius eisig: "Ihr veruteilt uns zu Schlimmerem als dem Tod. Ich hoffe, daß ihr das bereuen werdet", und verließ eilig und zornig die Höhle;.
Auf der Stelle hörte Mandala auf, sich zu putzen. Statt seiner kratzte sich nun Gershwin ausgiebig am Rücken, seufzte noch einmal pfeifend und wandte sich dann Mandala zu.
"Zurück zu unserem eigentlichen Problem. Wie lange reichen die Vorräte, denkst du?"
"Noch etwa eine Woche, schätze ich."

*

"Wollt ihr wohl zuhören, ihr verlotterter Haufen von kopflosen Schwänzen!" brüllte Gaius erregt in die Ansammlung sprühender Leiber. "Ich war beim Kommandanten! Heda! Hergehört!"
Für einen kurzen Moment schien es, als stocke die geschlossene Bewegung der Familie, doch dann war alles wie zuvor. Keine der Ratten reagierte.
"Er hat es abgelehnt. Wir bekommen keinen neue Höhle. Er überläßt uns unserem Schicksal."
Während die Nachricht allmählich den Haufen von Ratte zu Ratte gewispert durchdrang, wurde eine leichte Unruhe und Unsicherheit spürbar, als ahnten selbst die, denen die Familie längst zum Lebensinhalt geworden war, daß ungute Veränderungen bevorstanden. Noch immer aber äußerte sich keine der Ratten zu dem Problem.
Gaius fiepte in äßerster Wut und stürzte sich auf den Haufen. Er biß wahllos in einen der Schwänze und spürte fast augenblicklich, wie ein Zucken des Schmerzes durch die Ansammlung lief. Gaius Vorderpfoten wurde sanft von Nagezähnen ergriffen, sein Schwanz in eine sich bildende Öffnung zwischen den Rattenleibern gezogen. Er kreischte entsetzt, konnte jedoch nicht verhindern, daß er ins Innerer der Familie gezogen wurde.
Die Bewegungen der Familie wurden nun heftiger und und ruckhafter, und immer weniger Schwänze zeigten sich an der Oberfläche des Knäuels.
Schließlich ertönte ein lauter, fordernder Pfiff aus zahllosen Kehlen zugleich. Das Ding hatte seine Bewegungen nun beinahe eingestellt, nur noch die Rücken der beteiligten Ratten waren zu sehen, eng aneinandergedrängt und ohne jede Bewegung.
Durch den Schrei alarmiert kamen nun die Jungen, die draußen an der Arbeit gewesen waren, in die Höhle und bemerkten sofort beunruhigt, daß etwas sich verändert hatte. Eine ungeheure, geballte Autorität ging von dem Gebilde aus, vor dem sie standen, und sie spürten, wie ihre Widerstandskraft auf der Stelle schwand.
"Ihr steht vor dem König der Ratten" ertönte es vielstimmig und leise. Die Stimme schien keine Quelle zu haben, sie schien von überall aus der Höhle zugleich zu kommen, und die Jungen, es waren unterdessen sechs insgesamt geworden, bezweifelten nichts von dem, was sie sagte.
"Von nun an seid ihr nur noch an den König gebunden und gehorcht nur noch ihm. So wie ihr früher zum Käfig gehört habt, gehört ihr nun zum König. Ihr sechs, so wie ihr hier vor mir steht, bildet von nun an das Verwandtenkorps des Königs. Wir haben uns schon die erste Aufgabe für euch überlegt."
Es schien, als habe sich durch die monströse Verbindung der Ratten auch ihre Schnelligkeit und Intelligenz potenziert, und die sechs jungen Mitglieder des Verwandtenkorps hörten staunend und mit großen Augen, was ihr König von ihnen verlangte.

Aus den durch die Raumnot bedrängten Mitgliedern der Familie hat sich der König der Ratten gebildet, und er scheint sehr genau zu wissen, was er zu tun hat. Wie der König weiter vorgeht, und was seine Ziele sind, lesen Sie in Folge 5: Verwandte im Einsatz