Kai Schreiber

Autor | Neurowissenschaftler | Sänger






Perry Rodent

Die Ratte des Universums

Folge 13 - Das Geheimnis des Haufens

Was bisher geschah:

Die Situation im Rattenkäfig ist kritisch: allmählich gehen die Futtervorräte der Käfigverwaltung zur Neige. Zusätzlich wirkt der Schock der Unruhen, die das Verwandtenkorps des Rattenkönigs auslöste, noch nach. Große Angst vor der Zukunft beherrscht die Käfiginsassen - da hilft es auch nicht viel, daß die Einsatzgruppe "Dusty Star" ausgezogen ist, neue Futterquellen zu erschließen, denn von der Gruppe um Perry Rodent hat man schon lange nichts mehr gehört. Zusätzlich ist der Rattenkönig, den man durch das Verschließen seiner Höhle kaum aufhalten konnte, dabei, durch ein selbstgeschaffenes Loch in das Reich gefährlicher brauner Ratten vorzustoßen. Die erste Auseinandersetzung kann der König allerdings für sich entscheiden. Nichts von alledem ahnt der geniale Wissenschaftler Wolpertinger, der unterdessen versucht, ein Rätsel zu lösen: DAS GEHEIMNIS DES HAUFENS.

Wolpertinger starrte angestrengt auf das bräunliche Gebilde und quiekte unwillig, als Urban begann, sein Fell mit flinken Pfoten nach Schmutz zu durchsuchen.
"Ich bin nicht schmutzig", knurrte der Wissenschaftler, "ich denke nach." Irritiert ließ Urban von ihm ab und blickte nun ebenfalls zu dem Haufen hinüber. "Entschuldige", sagte er beleidigt, "dann denk doch weiter", und hüpfte davon. Wolpertinger hatte die Reaktion Urbans gar nicht mitbekommen.
"Ich glaub, der Alte spinnt. Er starrt jetzt schon seit einer Viertelstunde auf diesen Haufen, dabei könnten wir unsere Zeit doch sicherlich sinnvoller nutzen. Ich finde, es muß jetzt endlich was passieren."
Urbans kurzer Versuch, einen Wutausbruch vorzutäuschen, wurde vom verbliebenen Rest der Dusty Star wohlwollend als kleine Abwechslung zur Kenntnis genommen, jedoch, zumal unter Berücksichtigung der besonderen Eigenschaften von Urban, nicht sonderlich ernst genommen. Urban galt eher als Geheimtip, wenn man abends nicht einschlafen konnte: man fragte dann ihn, wie das denn gewesen war, als er damals die Fritte entdeckt hatte, und zack! Man konnte sicher sein, daß man wenige Minuten später sanft einschlummerte, und noch nicht einmal etwas verpasste. Denn erstens wußte nun wirklich jeder in der "Dusty Star", wie das gewesen war mit der Fritte, und zweitens erzählte Urban es jedesmal aufs Wort gleich (was natürlich keiner merkte, da ja niemand bis zum Ende zuhörte). Alles in allem hatte die "Dusty Star" ein ganz lustiges Leben, während man auf die Rückkehr Rodents wartete. Es wurde viel geschlafen, und in den Pausen zwischen den Nickerchen schlugen sich die Ratten die Bäuche an den paar Fritten voll, die die Ameisen noch nicht geholt hatten - und waren in dieser Beziehung sicherlich besser dran, als die im Käfig zurückgebliebenen, wie Wolpertinger sorgenvoll überlegte. Und da keiner wagte, den Ameisen in den Weg zu treten oder ihnen das Abholen der Fritten zu verbieten, war absehbar, wann auch die kleine Gruppe von müßiggehenden Abenteurern dem Hunger ins Auge sehen würde.
Irgendwas stimmt nicht, dachte Wolpertinger. Irgendwas daran ist falsch.
Er spielte kurz mit dem Gedanken, einen der anderen um Rat zu fragen, und wandte sich schon der Gruppe zu, als er Urbans einschläfernde Stimme den Moment beschwören hörte, in dem es geschehen war ("Es war unglaublich, einfach atemberaubend, und das meine ich ganz genauso, wie ich es sage. Ich konnte kaum mehr atmen, weil ich sie riechen konnte, bevor ich sie sah"). Wolpertinger seufzte und gab die Idee auf. Von denen würde ihn keiner verstehen. Auf der Stelle stieg seine Aufregung noch einmal an. Verstehen. Damit hatte es zu tun. Mit dem Verstehen, oder mit dem Verbieten? Und plötzlich hatte Wolpertinger eine Vision, sah sich selbst vor einem Heer winziger Punkte sitzen und mit gewichtiger Stimme dozieren, und vor Schreck über das plötzliche Verständnis quiekte er panisch auf.
Man konnte den Ameisen gar nichts verbieten, weil sie einen nicht verstanden. Man konnte nicht einmal mit ihnen reden!

*

Die Welt war ein Mosaik aus winzigen Fragmenten, die sich in ständiger Bewegung befanden, und immer neue, mal angenehme, mal irritierende Muster bildeten. Er/sie wußte es natürlich nicht, aber für Geschöpfe wie Wolpertinger wäre seine/ihre Sicht der Dinge sehr irritierend gewesen, vor allem aufgrund der eigenartigen Rolle, die die Zeit in der Konstitution der Muster spielte. Für sie/ihn waren Raum und Zeit nicht zu unterscheiden, denn die Elemente, wenn sie einen Splitter Wissens brachten, hatten einen Weg zurückgelegt, der sich nach Einheiten der Zeit bemaß. Entsprechend war das Bild der Dinge, das den Elementen entstieg, weder räumlich noch zeitlich, sondern momentan und örtlich, repräsentiert in der Anordnung der Elemente, und sich doch dieser Anordnung bewußt.
Er/sie wußte, daß das Futter, das anderswann gefunden, und auf komplizierten Bahnen von den Elementen ins Muster geführt worden war, in Berührung mit erstaunlich dynamischen Einflüssen geraten sein mußte, den an einigen Stellen zeigten sich Turbulenzen im Muster, die sich auch nicht durch den Einsatz von Elementen glätten ließen, wie er/sie das bei bloßen Störungen der Elemente selbst vermocht hätte. Er/sie erwog, ob die Wellen bedeuten konnten, daß andere Muster mit ihm/ihr Kontakt aufnehmen wollten, entschied aber nach einigen tastenden Umordnungen des Musters, daß zuwenig Ordnung in den Störungen lag. Die Elemente reorganisierten sich, und er/sie entschied sich, einige Futterknoten aus dem Muster zu lösen, um dem anderen Gelegenheit zu einer Nutzung der Knoten zu geben, und auf diese Weise eine Verbindung zu erzeugen.
Wellen der Bewegung durcheilten die Elemente, denn er/sie mußte, um den Verlust der Futterknoten auszugleichen, das Lager wieder ins Muster einbinden, eine Anstrengung, die sie/ihn große Energien und zahlreiche Elemente kosten würde.
Alle Prozesse gingen als Abbild ihrer selbst ins Muster ein, und obwohl der Vorgang nicht mit dem vergleichbar war, was eine Ratte Gedächtnis genannt haben würde, war das Ergebnis doch annähernd dasselbe. Er/sie bildete ein neues Muster, das das Wissen um das Unternommene enthielt, und wartete. Was im Grunde der ständige Zustand war, in der er/sie sich befand. Aktives Warten.

*

Wolpertinger starrte mit bebenden Flanken und geweiteten Nasenöffnungen auf die Bewegungen, die die Ameisen jetzt machten. Seine gewagtesten Vermutungen schienen Wirklichkeit zu werden.
"Seht ihr", rief er enthusiastisch, "sie holen keine neuen Fritten mehr ab. Das ist ein Zeichen, daß sie uns bemerkt haben."
"Aber was wollen Sie uns damit sagen?" fragte Flip nachdenklich, und Pius fiepte mißmutig.
"Das ist doch alles Quatsch. Wir verschwenden mit diesen Ameisendingern nur unsere Zeit. Wir sollten uns um die Verwandten kümmern, und rausfinden, was sie eigentlich wollen."
Wolpertinger ignorierte den Einwand und hüpfte ein Stück näher an den Haufen.
"Du weißt genau, daß Hupsi und Dotz nicht reden", pfiff Flip, "und solange Rodent nicht zurück ist, können wir hier nicht weg."
"Warum?" fragte Pius sofort zurück und Flip schwieg verblüfft. "Was bedeutet überhaupt dieser Haufen", fragte Wolpertinger nachdenklich. "Sie sind doch so klein, warum brauchen sie einen so großen Haufen?"
Pius ließ zornig die Luft entweichen. "Damit sie besser denken können, nehme ich an", zischte er, "wir sollten auch einen Haufen bilden, das würde vielleicht helfen." Er schnaubte noch einmal erbost, und ging dann zu den anderen, die von Urban wieder einmal in den Schlaf geredet wurden.
"Pius", quietschte Flip ihm scharf hinterher, doch Wolpertinger pfiff ab. "Laß ihn, Flip. Wer weiß, vielleicht hat er sogar recht. Wir sollten uns jedenfalls den Haufen genauer ansehen."

"Hier beginnt der Weg", sagte Urban nicht ohne Stolz, "und er führt in diese Richtung." Wolpertinger blickte in die Richtung, in die Urban wies, konnte jedoch nichts erkennen.
"Sollen wir die Fritten einsammeln?" fragte Flip und kratzte sich nervös am Ohr. Er verstand nicht allzuviel von dem, was Wolpertinger anstellte, und im Moment waren ihm der Haufen, die Ameisen und die Fritten entschieden zuviel.
"Nein", murmelte Wolpertinger, "wir schieben die Hälfte der Fritten den Ameisen wieder in den Weg. Sie haben sie uns überlassen, aber wir nehmen nicht alle. Die Ameisen müssen schließlich auch leben. Aber ich will wissen, was sie dort hinten wollen."
"Es kommt keine von ihnen zurück", merkte Urban an, der die Stelle entdeckt hatte, wo die Ameisen den Haufen verließen und in gerader Richtung davonmarschierten. "Es muß etwas sehr Wichtiges in dieser Richtung sein."
Wolpertinger brummte undefinierbar, dann gab er sich einen Ruck. "Wir lassen die Verwandten mit einer Wache zurück und folgen den Ameisen." Flip starrte ihn entgeistert an und wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch Wolpertinger kam ihm zuvor.
"Ich weiß, was du sagen willst, es ist mir egal. Die Ameisen wollen uns irgend etwas mitteilen, und ich will wissen, was es ist. Die Verwandten sind im Moment keine Gefahr, also sei still."
Flip stieß ein überfordertes Pfeifen aus, überlegte kurz, ob er sich als Wache anbieten sollte, um seine Ruhe zu haben, oder ob er als Chef vom Dienst Wolpertinger den Ausflug schlicht untersagen sollte, doch schließlich siegte seine Neugierde.
"Also schön", knurrte er, "Pius, Urban, ihr bleibt hier bei den Verwandten und schiebt die Hälfte der Fritten den Ameisen zu. Wolpertinger und ich werden nachsehen, was es da hinten zu sehen gibt." Er atmete tief ein, und machte dann einen raschen Sprung auf die Ameisen zu.
"Na los, Wolpertinger, worauf wartest Du", pfiff er, und machte sich auf den Weg. Er würde sich die Initiative doch nicht ständig von diesem Kunstnager aus der Pfote nehmen lassen.
Wolpertinger kicherte leise.
"Ihr habt gehört, was der Chef gesagt hat", sagte er heiter und folgte Flip. Mißmutig blickten ihm Urban und Pius nach, eher gleichgültig Hupsi und Dotz.
"Dann wollen wir mal", maulte Pius und machte sich an die erste Fritte.
"Vielleicht entdecken wir ja was Tolles", vermutete Urban strahlend.
Pius seufzte aus ganzem Herzen.
"Bestimmt", sagte er.

*

Er/sie spürte neue Unruhen im Muster, als ein Teil der ausgesonderten Futterknoten wieder Kontakt mit den Elementen gewann. Sein/ihr Verdacht schien sich zu bestätigen, die Existenz anderer Muster dort draußen war damit fast bestätigt. Und dann spürte er/sie die Erschütterung, wo die Elemente sich auf das Lager zubewegten. Eine schwache Resonanz erreichte ihn/sie aus der Richtung des noch längst nicht etablierten Musters, und besorgt fragte sie/er sich zum ersten Mal, ob die fremden Muster ihm/ihr freundlich gesonnen waren. Der Kontakt zum Lager war stets äußerst schwer zu halten, und das Muster dort auch unter besten Umständen äußerst labil und unsicher. Eine Störung dort mochte den Verlust des ganzen Lagers bedeuten. Er/sie hatte lange nicht mehr gekämpft, aber jetzt reaktivierte sie/er die entsprechenden Konzepte und leitete die Umgruppierung ein. Unmerklich gerieten die Grenzen des Musters in Bewegung, und ein zweiter Strom verließ ihn/sie und strebte zum Lager. Bald würde der Kreis ohnehin geschlossen sein. Er/sie wartete.

Wolpertinger hat begonnen, das Geheimnis des Haufens zu lüften, doch ist er noch weit davon entfernt, zu verstehen, was vorgeht. Unterdessen tragen sich bei den Ratten um Perry Rodent gefährliche Dinge zu. Die vier sind auf den Ungeheuerlichen gestoßen, und im Rahmen der Ereignisse dort gerät Rodent in arge Gefahr. Das ist auch der Titel von Folge 14: Rodent in Gefahr.