Kai Schreiber

Autor | Neurowissenschaftler | Sänger






Perry Rodent

Die Ratte des Universums

Folge 18 - Die Toten leben

Was bisher geschah:

Viel ist geschehen, seit die Einsatzgruppe "Dusty Star" unter der Leitung von Perry Rodent den Käfig verlassen hat, um neues Futter zu suchen. Während Rodent versucht den rätselhaften Ungeheuerlichen, der mit der Frittenmacht identisch zu sein scheint, dazu zu bewegen, neues Futter zu bringen, und Wolpertinger den Haufen der Ameisen erforscht, ist im Käfig selbst die Lage mehr als kritisch. Der drohende Hunger und die Umtriebe des Rattenkönigs machen der Käfigleitung um Gershwin ohnehin schwer zu schaffen, als der Angriff eines Monsters die Lage kompliziert. Derweil entdecken Rodent und seine Gefährten mit Hilfe der Ameisen einen gewaltigen Haufen Futter und machen sich auf den Rückweg zum Käfig, wo man erstaunt feststellt: DIE TOTEN LEBEN.

Auf dem Lagerplatz der zweiten Einsatzgruppe herrschte gerdrückte Stimmung. Seit der Begegnung mit dem Monstrum und der Fritte, die Anton bewußtlos geschlagen hatte, war alle Hoffnung aus den hungrigen Körpern gewichen. Zusätzliche Sorgen bereitete Kleopatra, daß sie ja immerhin noch einige Fritten gefunden und gefressen hatten, während im Käfig mittlerweile so wenig zu fressen sein mußte, daß womöglich der befürchtete Käfigkrieg doch noch ausgebrochen war und Ratten gegen Ratte kämpfte. In düstersten Farben malte sich die Zustände zuhause aus, während sie spürte, wie sie immer schwächer wurde und den Moment näherrücken fühlte, an dem es ihr unmöglich sein würde, den Rückweg zum Käfig zu schaffen.
Die einzige Hoffnung der Käfigbewohner, so schien es ihr, bestand in die Rückkehr Rodents und der "Dusty Star", doch auch was das betraf gab sich Kleopatra keinen Illusionen hin. Das Auftauchen des Monstrums, der eine Gefahr von nicht abschätzbarer Größe darstellte, hatte ihnen gezeigt, daß sie die Risiken eines Lebens außerhalb des Käfigs viel zu gering eingeschätzt hatten. Vermutlich waren Rodent und seine Gefährten längst nicht mehr am Leben, umgebracht von einem gewaltigen Ding, und wenn es ganz schlimm kam, war das Ding unterdessen auf den Käfig aufmerksam geworden, und wütete auch dort.

So schwarz Kleopatra sah, war doch der letzte Gedanke nichts als eine düstere Phantasie, die ihr die Schwäche eingab und ihr Entsetzen war daher maßlos, als ein Lärm ertönte, den sie sich nur so erklären konnte, daß das Monster den Käfig tatsächlich angriff. Doch ihre Schwäche war mittlerweile so groß, daß das entfernte schmerzvolle Quieken sich mit dem Schlagen ihres Herzens mischte, und das Scheppern der Käfigwände wie ferne Musik in der tristen Schwärze tönte. Kleopatra ließ sich mit geschlossenen Augen einen finsteren, trägen Fluß hinabtreiben, an dessen Ende, wie sie wußte, der Tod freundlich wartete. Und dieser Fluß duftete, nach zarten Körnern, nach Honigtalewrn, und sein sanftes Plätschern klang wie die ferne Stimme von Ratten.
"Aufgewacht", sagte der Fluß sanft, "wir haben Futter dabei."
Träge drehte sich Kleopatra in der Nacht, und erst als sie spürte, wie Körner zwischen ihren Zähnen hindurchgeschoben wurden, erwachte sie allmählich. Ungläubig öffnete sie die Augen und blickte ins Gesicht Flips, der sie grinsend begrüßte.
"Aufgewacht, wir brauchen Eure Hilfe", sagte er freundlich. "Andere haben schließlich auch noch Hunger."

*

Mandala stand kurz vor der Verzweiflung. Zwar hatte der Fund der Honigtaler durch Römer für einen kurzen Aufschub gesorgt, ebenso die Verteilung des Futters durch den Rattenkönig, als dieser versucht hatte, einen Aufstand zu provozieren, doch jetzt war endgültig alles zueende.
"Wenigstens hält der König still", murmelte Mandala leise, während er sich ratlos den Rücken kratzte, "aber sonst geht wirklich alles schief, was schiefgehen kann."
Nicht nur hatte die "Dusty Star" bislang offenbar keinen Erfolg gehabt, mittlerweile hatten sie Nachricht von der zweiten Einsatzgruppe, die von einem Monstrum angegriffen worden war, das vor kurzem auch den Käfig attackiert hatte. Ein gewaltiges Objekt war herabgefallen - oder, überlegte Mandala mit einem Schaudern, herabgeworfen worden - und hatte ausgerechnet Gershwin am Hinterleib getroffen. Der Käfigkommandant war scher verletzt und bewußtlos, und also hatte nun er, Mandala, das Kommando inne, und wußte nicht so recht, was er damit anfangen sollte.
Er hatte sich in seine Höhle zurückgezogen, und darum gebeten, daß man nach Römer suchte und ihn ihm brachte, sobald er gefunden war, denn die einzige Hoffnung, die Mandala - außer einem Wunder - noch sah, war, daß noch mehr Futter versteckt war, und daß Römer oder sein rätselhafter Informant wußten, wo.
Sollte sich auch diese Hoffnung als leer herausstellen, würde die gegenwärtige Krise, dessen war sich Mandala gewiß, zum Ende des Käfigs führen.

"Ich weiß nichts", sagte Römer, der von zwei Wachen der Rattenpolizei in die Höhle gestoßen wurde, noch ehe Mandala fragen konnte. Der Kommandant winkte entnervt ab.
"Ihr könnt gehen", knurrte er den Wachen zu, und beobachtete ihr Verschwinden, dann blickte er Römer direkt in die Augen. Kurze Zeit maßen sie einander stumm, dann seufzte Mandala tief.
"Ich will Dir etwas verraten", sagte er schwer, "mir macht das auch keinen Spaß."
Römer lachte leise.
"Du bist für uns verantwortlich", sagte er langsam, "ich bin nur eine kleine Ratte."
"Aber Du weißt, wo es Futter gibt", erwiderte Mandala ruhig, "und wir sterben alle, wenn wir es nicht bekommen."
Römer schüttelte sich unbehaglich und begann dann, seine Krallen mit den Zähnen zu reinigen.
"Antworte wenigstens", brummte Mandala, und wünschte sich zum wiederholten Male weit weg.
"Ich weiß nichts. Es war reiner Zufall, daß ich das Futter gefunden habe", beharrte Römer, und fragte sich, ob er das richtige tat. Es war immer seine feste Überzeugung gewesen, daß der Unbekannte in der dunklen Höhle den Käfigratten freundlich gesonnen war, und daß die Geheimhaltung, die er von Römer verlangte, seit Römers Vater ihn kurz vor seinem Tod in seine Höhle geführt hatte, ihre Berechtigung hatte. Jetzt, in der wohl schwersten Krise, die der Käfig seit Rattengedenken durchmachte, kamen ihm erstmals Zweifel.
"Du mußt es mir verraten", beharrte Mandala hilflos, und entschloß sich, ehrlich und offen zu sein. "Es ist unsere letzte Hoffnung. Wenn es nicht noch mehr Futter gibt, werden wir anfangen, uns gegenseitig aufzufressen. Wir werden alle sterben, Römer."
Römer spürte, wie sein Herz schneller und schneller schlug, und er wußte, während er angstvoll "das ist nicht wahr" fiepte, daß es stimmte. Sie würden alle entweder Kannibalen werden, oder gefressen, bis die letzten verhungert waren. Er spürte, wie ihm vor Verantwortung schwindlig wurde, und er spürte seinen Vater neben sich und hörte die Stimme des Fremden im Dunkeln, die sagte "ich bin Euer Freund, aber Du darfst niemals jemandem von mir erzählen. Es wäre das Ende des Käfigs, wenn jemals jemand erfährt, was ich bin."
Römer holte tief Luft und nickte. "Also gut", sagte er schwer. "Ich werde es Dir erzählen."
Aufmerksam hüpfte Mandala näher. "Es ist schon lange her", begann Römer, "da führte mein Vater mich in eine dunkle Höhle..."

*

"Es ist erstaunlich, wie schnell diese Tiere sind", sagte Rodent nachdenklich, und Wolpertinger an seiner Seite strahlte stolz.
"Nicht wahr? Ein mächtiger Verbündeter, den wir da gewonnen haben."
"Vielleicht können wir die Ameisen gegen den Rattenkönig einsetzen", überlegte Bull, "als Spione sozusagen."
"Warten wir erst ab, wie die Lage im Käfig ist", dämpfte Rodent die Euphorie seiner Begleiter. "Der Zustand von Kleopatras und Antons Gruppe läßt Schlimmes befürchten. Und vergeßt nicht den grauenvollen Lärm, den wir gehört haben. Vielleicht gibt es im Käfig gar niemanden mehr, mit dem wir etwas zu tun haben wollen."
Schweigend schleppten sie ihre Fracht ein Stück weiter, dann grunzte Bull unbehaglich.
"Mal mal nicht gleich den Kater an die Wand", sagte er und sofort hielt Wolpertinger irritiert inne.
"Was ist eigentlich ein Kater?" fragte er, und verblüfft stoppten auch die anderen.
"Was meinst Du damit?" fragte Rodent ratlos. Wolpertingers Aufregung nahm zu.
"Früher im Käfig habe ich mich sowas nie gefragt, aber woher kommt denn dieses Sprichwort mit dem Kater? Was ist überhaupt ein Kater?"
"Tja", machte Bull, nahm seine Last wieder auf und begann, weiterzulaufen. "Schon seltsam, aber das werden wir hier nicht rausfinden, glaube ich."
"Bull hat recht", sagte Rodent, "wir müssen weiter. Flip, Squeek und Urban sind uns sowieso schon so weit voraus."
Seufzend machte sich als letzter auch Wolpertinger wieder auf den Weg, und nahm sich vor, jemanden zu fragen, sobald wieder ein wenig Ruhe eingekehrt sein würde. Nur wen? Unbehaglich begriff er, daß der einzige, den man im Moment mit komplizierten Fragen konfrontieren konnte, er selbst war. Und was er nicht wußte... wußte also niemand? Oder gab es jemanden, der alles wußte? Elektrisiert über diesen neuen Gedanken, begann er zu begreifen, wie gelähmt er durch sein langweiliges Leben im Käfig gewesen war, und welche Möglichkeiten in seinem Kopf schlummerten. Die Begeisterung der Erkenntnis erfaßte ihn, wurde jedoch schnell übertroffen von der ansteckenden Begeisterung, die den Heimkehrern aus dem Käfig entgegenschlug.
Flig, Squeek und Urban waren tatsächlich weit voraus gewesen, und als sie den Käfig erreicht hatten, hatte sich auf der Stelle eine gewaltige Rattentraube gebildet. Die Honigtaler, die sie mitgebracht hatten, wurden rasch verteilt, doch als dann die Ameisen mit ihrer Fracht ankamen, und die einzelnen Tiere unermüdlich Körner abluden, und sich an den Rückweg machten, ohne daß ein Ende des Nahrungsstromes zu sehen gewesen wäre, da brach im Käfig ungebrochene Euphorie aus. Als schließlich einige Minuten danach Rodent zurückkehrte, hatte sich die Neuigkeit bereits so weit herumgesprochen, daß er gefeiert wurde wie ein Held.
In all der Freude ging die Erleichterung der Heimkehrer, daß die befürchtete Katastrophe offenbar ausgeblieben war, und der Käfig mehr oder minder intakt war, völlig unter. Erst nach einer halben Stunde hatte sich die Situation beruhigt, und Rodent, Bull und Mandala konnten sich in die Höhle des Kommandanten zu einer Besprechung zurückziehen, während draußen schon die Verteilung des noch immer stetig ankommenden Futters auf die leeren Vorratskammern begann.

"Wir haben die andere Einsatzgruppe zurückgelassen, um den Haufen und das Futter zu sichern. Außerdem waren Kleopatra, Anton und ihre Begleiter zu geschwächt für den Rückweg."
Mandala hatte müde, aber aufmerksam der Erzählung Rodents gelauscht, und besonderes Interesse für die Rolle der beiden Verwandten Hupsi und Dotz gezeigt. Er seinerseits hatte kurz den Zustand des Käfigs dargestellt, und die Probleme, vor denen sie standen, beschrieben. Nun schien er etwas weiteres wichtiges zu sagen zu haben, baute sich auf, und versuchte, nicht zu erschöpft zu klingen, als er Rodent anbot, das Kommando über den Käfig zu übernehmen.
"Du hast uns vor dem Verhungern und Schlimmerem gerettet, und Du weißt weitaus besser als ich, was jetzt zu tun ist, um die Situation zu stabilisieren. Du bist der bessere Kommandant."
Rodent verharrte einen Moment schweigend, dann straffte sich seine Gestalt und er nickte.
"Du hast recht", sagte er einfach. "Und jetzt gehen wir an die Arbeit, meine Herren. Erstens: Urban und Pius werden sich auf den Rückweg zum Haufen machen, und mit den Ameisen und Kleopatras Gruppe zusammen den Transport der Futterpakete hierher organisieren. Wir werden sie irgendwo im Käfig lagern. Zweitens: wir gehen sofort in die dunkle Höhle, von der Römer berichtet hat und sehen uns an, wer dieser seltsame Fremde ist. Und drittens werden wir danach die Höhle des Königs stürmen. Unsere Leute müssten wieder kräftig genug sein, um ihm ans Leder zu gehen."
Bull schickte sich schon an, Urban und Pius über ihre neue Aufgabe zu unterrichten, als Mandala ihn mit einem Fiepen zurückhielt.
"Da ist noch etwas, Perry", sagte er. "Die 'Dusty Star' bestand doch aus 10 Ratten, als sie auszog?"
Rodent nickte. "Wir haben Taff verloren. Wenn wieder Ruhe im Käfig herrscht, werden wir losgehen, und ihn suchen. Aber erst..."
Mandala schüttelte stur den Kopf. "Ihr wart zu neunt, als ihr zurückkamt, oder?"
"Ja, zehn minus einer ergibt nun einmal neun."
"Aber Wolpertinger war bei der Gruppe gar nicht dabei. Er ist Euch nachgegangen. Einer fehlt."
Irritiert blickten sich Bull und Rodent an.
"Ihr habt irgendwo jemanden verloren, und wir sollten uns überlegen, wen und wo. Alles, was wir nicht wissen, kann gefährlich für uns werden." Mit diesen Worten verließ Mandala die Höhle, doch Rodent und Bull standen immer starr und versuchten sich zu erinnern, wer fehlte. Es gelang ihnen nicht.

*

"Er ist nicht mehr da", sagte Römer bedrückt, als er wieder aus der Höhle hervorkam. "Ich habe ihn verraten, deshalb ist er geflohen."
"Unsinn", sagte Rodent bestimmt, "wir werden ihn finden. Du wirst eine Einheit der Rattenpolizei einsetzen, um die Höhle hier so weit zu öffnen, daß etwas Licht hineinfällt. Und jetzt kümmern wir uns um den König."
Den Abmarsch der Käfigleitung beobachtete eine perfekt getarnte braune Ratte, die leise zischte, als sie hörte, was Rodent vorhatte.
"Ihr könnt mich nicht aufhalten", fauchte der Fremde. "Degeneriertes Pack."

Der Käfig scheint gerettet, auch wenn die Gefahr durch den Ungeheuerlichen und den König der Ratten nach wie vor besteht. Doch der Angriff auf den König wird ins Leere gehen, da der seine Verwandten zum Sturm auf die Vorratskammer der Wildratten rüstet. Wie es weitergeht, lesen Sie in Folge 19: Jagd nach dem Futter.