Kai Schreiber

Autor | Neurowissenschaftler | Sänger






Perry Rodent

Die Ratte des Universums

Folge 15 - Der Käfig und das Monster

Was bisher geschah:

Die Situation im Rattenkäfig ist kritisch: allmählich gehen die Futtervorräte der Käfigverwaltung zur Neige. Zusätzlich wirkt der Schock der Unruhen, die das Verwandtenkorps des Rattenkönigs auslöste, noch nach. Große Angst vor der Zukunft beherrscht die Käfiginsassen - da hilft es auch nicht viel, daß die Einsatzgruppe "Dusty Star" ausgezogen ist, neue Futterquellen zu erschließen, denn von der Gruppe um Perry Rodent hat man schon lange nichts mehr gehört. Zusätzlich ist der Rattenkönig, den man durch das Verschließen seiner Höhle kaum aufhalten konnte, dabei, durch ein selbstgeschaffenes Loch in das Reich gefährlicher brauner Ratten vorzustoßen. Die erste Auseinandersetzung kann der König für sich entscheiden, doch dann kommt es zu einer folgendschweren Begegnung: es treffen aufeinander DER KÄFIG UND DAS MONSTER.

Mandala saß vor der Höhle Gershwins und betrachtete mißmutig und verängstigt das Treiben der Ratten im Käfig. Überall kam es in letzter Zeit zu Reibereien, das aggressive Fauchen streitlustiger Ratten wurde schon kaum mehr gehört, und Mandala fürchtete das schlimmste. Die Nahrungsvorräte neigten sich endgültig dem Ende zu, doch noch immer vermieden die Ratten, die das Unheil kommen sahen, es, sich auszumalen, was geschehen mochte, wenn die letzte Portion Futter verteilt, der letzte Honigtaler verspeist sein würde. Vermutlich würden einige dann begreifen, was das alte Rattensprichwort "Köttel kann man nicht essen" bedeutete, doch würde das kaum das schlimmste bleiben. Mandala verstand nicht viel von dem, was um ihn herum vorging, was er wußte - aber er ahnte einen Zusammenhang zwischen der Notlage, in der der Käfig sich befand und dem Auftauchen einer Gefahr wie dem Rattenkönig. Allerdings wußte er nicht, wie dieser Zusammenhang aussehen mochte, denn wenn er sich vorstellte, daß Ratten, denen es am Futter fehlte, auch noch ihre Freiheit hergeben sollten, weil es ihnen am Futter fehlte, dann wurde ihm schwindlig. Aber natürlich bestand auch die Möglichkeit, daß ihm vor Hunger schwindlig wurde, das ließ sich allmählich nicht mehr auseinanderhalten.
Ein wütendes Fauchen ertönte, diesmal jedoch von einer Stelle hinter Mandala aus, und da Mandala nur zu genau wußte, was dort geschah, entließ er ein langes, leises Quieken und wandte sich zurück in Gershwins Höhle, wo gerade Römer verhört wurde.

"Also, woher wußtest du, daß dort Futter liegt, Römer?" Gershwin blickte unwillig auf das Mitglied der Rattenpolizei, das zitternd vor ihm saß und mit großen Augen auf keine bestimmte Stelle der Höhlenwand starrte.
"Und gibt es da, wo das herkam, noch mehr", beharrte Gershwin.
"Das hast du schon viermal gefragt", murrte Mandala leise, als er wieder hereinkam, aber Gershwin schnaubte nur erzürnt.
"Wir hungern", fauchte er. "Und er hält Futter zurück."
Mandala drehte den Kopf zur Wand und schob ihn leicht unter die Brust, wodurch seine folgende Erwiderung schwer verständlich war.
"Das weißt du nicht, Gershwin. Und für den Hunger kann er nichts." "Wer denn sonst", brüllte Gershwin, "irgendeiner muß doch schuld sein." Er ließ seine Stimme gegen Ende mehr und mehr abfallen, die letzten Worten glichen mehr einem hilflosen Pfeifen als einem Wutausbruch. Schwer atmend saß Gershwin da, ließ pfeifend die Luft durch den Mund austreten und wandte sich schließlich mit einem Ruck ab.
"Macht doch was ihr wollt", sagte er leise und verließ die Höhle.
Nach kurzer Zeit wandte Mandala sich von der Wand ab und wieder Römer zu, doch der hatte die Gelegenheit genutzt und war wieder einmal verschwunden. Obwohl Mandala sofort vor die Höhle eilte, konnte er ihn nirgendwo mehr entdecken und pfiff anerkennend.
Römer hatte so wenig zu fressen wie sie alle, und war dennoch zu solchen Leistungen imstande. Versonnen überlegte Mandala, woran es liegen mochte, daß die Ratten so verschieden waren, da hörte er entferntes Kampquieken und Schreien und lief los, so schnell er konnte. Allzuschnell war es nicht mehr.

*

Die Höhle wimmelte vor geschäftigem Treiben und Tun, und kaum fiel der gewaltige Körper im Hintergrund auf, der wie aus zahllosen Ratten zusammengesetzt und doch wie ein einzelnes Individuum wirkte. Ab und an erscholl ein vielstimmig schrilles Kommando irgendwo aus dem Ding, das der angesprochene Verwandte auf der Stelle befolgte.
Eben in diesem Moment sprang eine Verwandte durch den engen Erdschacht, der die Höhle mit dem Käfig verabdn, seit der Haupteingang durch Gershwins Rattenpolizei verschlossen worden war, und fiepte klagend und enttäuscht.
"Gershwin und Mandala haben unseren Störtrupp überwältigt. Wir haben vier Verwandte und zwei Wilde verloren."
Abrupt kam Bewegung in den gewaltigen Körper, er schien ein wenig auf die Verwandte zuzuschwappen, und beinahe gleichgültig sagte die hypnotische Stimme: "Das ist schade, aber es macht nichts. Wir werden bald die Vorratskammer auf der anderen Seite erreichen. Dann haben wir den Käfig in der Hand. Dort oben gibt es ohnehin kein Futter mehr, und wenn wir welches von drüben beschaffen, brauchen wir die dort oben nur noch damit einzusammeln."
Einen Moment lang war es, als stellten sich alle Verwandten gemeinsam diese goldene Zukunft vor, doch dann ging auf der Stelle wieder jeder an die Arbeit, die er zu tun hatte. Grimmig beobachteten die beiden Wilden, die an der Lücke in der Holzwand wachten, die nach drüben führte, das Treiben und sie wirkten, als wären sie nie etwas anderes gewesen als Verwandte des Königs. Und vielleicht war es im Grunde tatsächlich so.

*

Römer starrte unsicher in die Dunkelheit, unsicher, weil er sein Gegenüber nicht sehen konnte, unsicher aber auch, weil er wußte, was ihn erwartete, wenn er wieder zurück zu den anderen ging.
"Sie haben mich verhört", sagte er ins Leere, und hoffte, daß der andere da war, um ihn zu hören. "Ich kann es nicht mehr lange geheimhalten."
"Das habe ich befürchtet", sagte der geheimnisvolle Unbekannte und Römer versuchte, durch die Finsternis zu erkennen, mit wem er es zu tun hatte.
"Du kannst mich nicht sehen. Deine Augen sind zu schwach", sagte der Fremde, und es klang nicht überheblich, nur sachlich.
"Wer bist du? Und woher kommt das Futter?"
"Oh, das Futter", eine kleine Pause folgte, als müsse der Fremde sich an etwas erinnern, das lange zurücklag. "Das habe ich dort vergraben, für den Fall, daß ich einmal niemanden finden könnte, der mich versorgt. Und wer ich bin... vielleicht wirst du es bald erfahren."
"Wenn Du tot bist? Wir werden alle tot sein."
"Vielleicht." Der Fremde klang gleichgültig und unbewegt, und zum ersten Male fragte sich Römer, ob es überhaupt eine Ratte war, mit der er sprach. Sofort wurde ihm der dunkle Höhlenraum unheimlich, die Schatten sprangen auf ihn zu und umtanzten ihn, und er schwankte.
"Sind die braunen Ratten wieder gesehen worden?"
Römer spürte, wie die Schwäche ihn zu übermannen drohte, und verließ eilig die Höhle, als würde er gejagt, was, wie er nach einem Blick über zurück sehen konnte, nicht der Fall war. Dafür stand unmittelbar vor ihm Mandala und blickte ihn durchdringend an.
"Wo kommst du her, Römer? Von deinem Informanten?"
Römer starrte auf die große Menge von Ratten, die sich zu kleinen Gruppen zusammengerottet hatten, und angriffslustig aufeinander einfauchten, und sah, daß im Hintergrund zwei von den braunen von einer starken Polizeieskorte fortgebracht wurden. "Ihr habt welche fangen können?"
"Sie haben versucht, Streit anzufangen und die Leute aufzubringen, aber es waren zu wenige. Wir wissen nicht, wo der Rattenkönig jetzt ist, oder was er macht, aber wir vermuten das Schlimmste. Aber jetzt habe ich mich genügend ablenken lassen. Wo warst du?"
Und in diesem Moment geschah es.

Die widersprüchlichen Berichte (und nahezu jeder, der dabei gewesen war und mancher, der zu der Zeit woanders gewesen war, erzählte die Geschichte anders. Und selbstverständlich beharrte jeder darauf, daß seine Version die richtige war) sprachen stets davon, daß ein lautes, gefährliches Geräusch ertönt sei, langanhaltend und bösartig. Sofort sei eine Panik ausgebrochen, und alle seien durcheinandergelaufen. Manche sollen sich Kopf voran in kleinen Heuhaufen oder unter benachbarten Ratten versteckt haben. Dann habe sich ein gewaltiges Ding von oben auf den Käfig gesenkt, der Lärm sei noch infernalischer geworden, der Käfig, ja, das Universum selbst habe sich bewegt und verformt, und dann stürzte ein gewaltiges Etwas herab und traf den armen Gershwin, der grade stolz neben den beiden gefangenen Wildratten einherstolzierte, am Hinterleib. Mit einem kläglichen Geräusch soll Gershwin zu Boden gegangen sein und sofort das Bewußtsein verloren haben.
Strittig ist allerdings, ob Gershwin tatsächlich, wie manche gesehen haben wollen, die Pfoten gehoben, und gerufen hat: "Nimm mich, aber schone den Käfig." Und strittig ist auch, ob das Monster ihm darauf tatsächlich geantwortet hat: "Du bist meine Ratte, an der ich Wohlgefallen habe". Jedenfalls gibt es zwei oder drei Bewunderer Gershwins, die Stein und Bein schwören, daß es so und nicht anders gewesen ist.
Sicher ist nur, daß das Monster tatsächlich, nachdem es Gershwin getroffen hatte, den ursprünglichen Zustand des Käfigs wiederherstellte, noch einmal ein enormes Geräusch auslöste, und dann verschwand. Und sicher ist, daß Gershwin bis jetzt nicht wieder aus seiner Bewußtlosigkeit ergewacht ist, und ich, Mandala, jetzt die Leitung über den Käfig habe. Es kann nicht mehr lange dauern, bis hier endgültig das Chaos ausbricht. Ob die Begegnung mit dem Monster den Untergang beschleunigen oder verlangsamen wird, ist dabei eher nebensächlich. Wir haben von Rodent nichts gehört. Das Vorräte sind praktisch erschöpft. Wir sind am Ende.

Es sieht aus, als risse die Pechsträhne der Käfigbewohner nicht ab, und auch wenn der Anschlag des Rattenkönigs fehlschlug, hat doch die Attacke des Monsters schlimme Schäden angerichtet. Nächste Woche beschäftigen wir uns jedoch zunächst mit dem weiteren Vordringen des Rattenkönigs in das Reich der Wilden. Mehr dazu lesen sie in Folge 16: Vorstoß nach drüben.